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8. Mai 2020: Seit 75 Jahren ist der Krieg vorbei
Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. In sechs Jahren Krieg waren über 60 Millionen Menschen dem nationalsozialistischen Krieg zum Opfer gefallen. Städte, Dörfer, Familien waren zerstört. Der Blick auf lokale Zahlen, Bilder und Berichte hier bei uns vor Ort helfen uns dabei, die Lage der Menschen zum Zeitpunkt des Kriegsendes und in den Folgejahren zu erahnen.
Bereits im Jahr 1943, als diese Aufnahme entstand, hatten Bomben das Ortszentrum von Korschenbroich getroffen und schwere Zerstörungen angerichtet. Auch in den umliegenden Dörfern hinterließ der Krieg seine Spuren an den Gebäuden und Straßen. Über die Zahl der menschlichen Opfer gibt Band 4 der "Schriften des Stadtarchivs Korschenbroich" Auskunft. Demnach starben insgesamt 433 Männer aus den damaligen Gemeinden Korschenbroich, Kleinenbroich, Glehn und Liedberg zwischen 1939 und 1945 an den Fronten. 221 kehrten als Kriegsbeschädigte heim, 46 Menschen wurden Opfer bei Luftangriffen.
Es fehlt an Nahrung und Kleidung
Zum Kriegsende stehen viele Familien vor dem Nichts. Es wird gehamstert, geplündert, bestraft. Die Kreis-Militärregierung ordnet zur "Verhütung von Feld- und Gartendiebstählen" unter anderem Sperrzeiten an. Wege, Äcker und Gärten dürfen von Einbruch der Dunkelheit bis zur Morgendämmerung nicht betreten werden. Selbst die Nachlese der Felder ist nur mit "Zustimmung der Nutzungsberechtigten" zulässig. Auch Kleidung und Decken fehlen. So schreibt der Amtsbürgermeister Dr. Lesaar 1945:
Bei der derzeitigen Kleider- und Wäschesammlung fehlt noch ein Drittel der Wolldecken und Herrenschuhe. Da die Aufbringungen 100prozentig erfolgen müssen, werden alle Bürger, insbesondere diejenigen, deren Haus und Hof durch den Krieg verschont blieb, aufgefordert, am morgigen Sonntag in der Zeit von 13 bis 17 Uhr in der Schule Korschenbroich, im Saal Deuss, Pesch, oder in der Schule Herrenshoff eine Wolldecke oder ein Paar Herrenschuhe abzugeben. Sollten die Decken (...) nicht vorhanden sein, muss laut Anordnung der Militärregierung zu Zwangsmaßnahmen geschritten werden.
Hochwasser, Hunger und Kälteeinbruch
Der Korschenbroicher Amtsdirektor schreibt im Januar 1947 an den Oberkreisdirektor: "Die Unzufriedenheit wächst bei der katastrophalen Lage in Bezug auf Ernährung und Brennstroffversorgung von Tag zu Tag. Die Achtung vor fremdem Eigentum schwindet immer mehr. Sollte keine Besserung in der Versorgungslage eintreten, kommt es zu einer vollständigen Auflösung der offentlichen Ordnung. Die Ernährungslage ist weiter trostols. Die in der letzten Woche in Korschenbroich und Kleinenbroich angelieferten 2 Waggon Kartoffeln waren restlos erfroren. Es fehlen (...) über 5000 Zentner." Nach den Schilderungen geht auch das Brotgetreide zur Neige und "der Waldfrevel kennt keine Grenzen mehr und ist nicht mehr zu hemmen", weil die Menschen sich Brennmaterial beschaffen, um nicht zu erfrieren.
In der Lüttenglehner Schulchronik aus dem Schuljahr 1946/47 heißt es: "Der Winter war in diesem Jahre außergewöhnlich streng und der Frost dauerte viele Monate an. Infolge der sehr geringen Kohlezuteilung hatte der größte Teil der Bevölkerung sehr unter der Kälte zu leiden." Der Schulbetrieb ruhte phasenweise, die Kinder bearbeiteten daheim Hausaufgaben. Ähnliches berichtet die Schulchronik aus Glehn. "Die Kälte erreichte minus 20 Grad. Als am 24.02.1947 die Kälte nachließ und gleich darauf Tauwetter einsetzte, konnten die Wasserläufe die Wassermassen nicht fassen und es entstand ein Hochwasser, wie Glehn es wohl noch nicht gekannt hatte. Der ganze mittlere Teil des Dorfes (...) stand unter Wasser."
Kartoffeldiebstahl: Geld- oder Gefängnisstrafe
In verschiedenen Ausgaben des "Amtlichen Mitteilungsblattes des Kreises Grevenbroich-Neuss" aus den Jahren 1945 und 1946 werden Gerichtsurteile veröffentlicht. Namentlich sind Angeklagte aufgeführt, die etwa wegen "unrechtmäßigem Gemüsebesitz" zur Zahlung von 200 Reichsmark (entspricht zu der Zeit dem Schwarzmarktwert von einem Pfund Butter) verurteilt werden. Für den unrechtmäßigen Besitz einer geschlachteten Kuh gibt es sechs Monate Gefängnis. In manchen Fällen lässt die britische Militärregierung Gnade walten: "Julie T. wurde aus der Haft entassen aus Gründen des Mitleids und hat 6 Monate Bewährungsfrist". Ihr Vergehen: Verstoß gegen die Feld- und Forstgesetze.
Schreiben, rechnen, Rüben einzeln
Aus heutiger Sicht waren die Schulklassen mit rund 40 bis 50 Kindern nach dem Krieg riesig. Auf dem Stundenplan standen Fächer wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Viele praktische und nützliche Tätigkeiten gehörten ebenfalls dazu. Auszug aus der Korschenbroicher Schulchronik von 1948: "Durch regen Fleiß der Kinder und verständnisvolle Mitarbeit des Kollegiums konnte das Sammelergebnis wesentlich gesteigert werden. Bei der hiesigen Sammelstelle wurden insgesamt 1440 kg Drogen (steht für Heilkräuter) angeliefert und verpackt weiterbefördert."
Haus- und Feldarbeit gehörten selbstverständlich zum Nachmittagsprogramm der Jungen und Mädchen.
Wirtschaft kommt wieder in Fahrt
Das Sport- und Vereinsleben nimmt wieder Fahrt auf und auch der Arbeitsmarkt bewegt sich. Der "Verwaltungsbericht über die Entwicklung der Industrie" aus dem Amt Korschenbroich vom April 1948 belegt einen zarten Aufschwung. Demnach hat beispielsweise die Weberei Irmen 1945 für Aufräumarbeiten 30 Beschäftigte eingestellt und zählt inzwischen 266 Mitarbeitende. In der Feinspinnerei Will ist die Zahl von vier auf 139 Angestellte gestiegen. Die vereinigte Willicher-/Hannen-/Löwenbrauerei konnte die Zahl der Beschäftigten im genannten Zeitraum von 25 auf 33 steigern.
Jeder startete mit 40 DM
Die sogenannte "Kopfquote" wurde 1948 im Zuge der Währungsreform ausgezahlt. Jeder erhielt 40 DM und konnte frei entscheiden, was mit dem Geld passieren sollte. Das Amtliche Mittelungsblatt des Kreises Grevenbroich-Neuss vom September 1948 empfiehlt: "Verwenden Sie die zweite Rate der Kopfquote in erster Linie zur Winterbevorratung; Kartoffeln und Hausbrand müssen eingekellert werden."
Doch es gibt auch andere Sachzwänge, wie diese Zeitzeugenaussage belegt: "Wir mussten mit dem Geld die Beerdigung der Mutter bezahlen. Den Schreiner konnten wir mit einem Sack Weizen für den Sarg und den Küster mit einem Päckchen Tabak bezahlen. Alles andere mussten wir von dem neuen Geld bestreiten."
Ein anderer Zeitzeuge konnte das Geld gewinnbringender anlegen: "Ich habe dafür eine Ziege gekauft, damit wir immer Milch hatten. Aus der Milch konnten wir dann auch Butter und Käse machen, und so habe ich diesen Kauf nie bereut."